ÜBER DEN TELLERRAND
Vegan Guilt – das Gewissensbisschen
Von den Herausforderungen, ein guter Mensch zu sein
Schweißgebadet wachte ich auf. Ich hatte einen animalischen Albtraum. Und zwar lag ich eingemummelt – der Klassiker 😉 – unter einer tierisch warmen Daunendecke und zählte mal wieder jene Schäfchen, die mir erst recht den Schlaf raubten, weil sie jedes Mal, wenn ich meine Wohlfühlsocken über meine veganen Füßchen zog, ihrem verlorenen Wollkleid nachblökten. Und der Schlaf des (Selbst)-Gerechten war beendet. So schlurfte ich missmutig und voller Gewissensbisse in die Küche, öffnete den Kühlschrank und trank erst mal einen Schluck klärendes Wasser. Doch halt, mein Blick blieb auf dem Etikett der Wasserflasche haften und ließ in mir die Frage aufkeimen, ob der Kleber für dieses informative Stück Papier etwa ebenfalls nicht veganen Ursprungs sein könnte. Und was ist eigentlich das Weiße in dem Dressing der Fertig-Salatschüssel, die ich mir heute Mittag geholt hatte und deren Rest mir vorwurfsvoll aus dem Kühlfach entgegenstarrt?
Ganz so geballt war’s natürlich nicht: doch im Laufe meiner Entscheidung für ein veganes Leben, gab es sie: diese Momente der Grundsatzfragen. Manchmal kam ich dabei vom Hundertsten ins Tausendste und meine Gedanken kreisten fortan um die tatsächliche Qualität meines veganen Daseins. War es wirklich so verwerflich die Wintermonate in richtig warmer, den Körper streichelnder Kashmir-Unterwäsche zu verbringen, zumal ich auf die meisten anderen Materialien kratzbürstig reagiere? Auch bei Essenseinladungen mit Geschäftsleuten musste ich das eine und andere Mal zu Gunsten eines erfolgreichen Geschäftsabschlusses abwägen, ob ich den anstehenden Deal laktoseverweigernd gefährde, oder dann doch lieber das Stückchen Edel-Käse auf dem vom Chef spendierten 3-Sterne-Teller samt schlechtem Gewissen herunterschlucke. Beim jährlichen Weihnachtsenten-Essen meiner 90-jährigen Oma fiel es mir da schon ein wenig leichter, schließlich war ich ihr Lieblingsenkel, dessen Liebesbeweis sich schon seit Kindestagen im Aufessen ihres üppigen Mahls nebst tonaler Schmatzbegleitung ausdrückte.
So gab es in der Vergangenheit immer mal wieder diese Anflüge von Schwäche, die mich davon abhielten mich am ledernen Riemen zu reißen, um auch ja meinen Prinzipien treu zu bleiben, doch manchmal heiligt der Zweck eben die Mittel. Nach jahrelangen Selbstzweifeln und innerem Ringen habe ich in bestimmten Situationen aber mittlerweile den Frieden damit geschlossen und getreu dem Motto „nobody‘s perfect“ auch mal in den sauren Apfel des sündigen Baumes zu beißen.
Meine Entscheidung, auf Tierprodukte jeglicher Art zu verzichten, sollte doch mehr sein, als nur die Summe erbsenzählender Eventualitäten. Natürlich „zerfleische“ ich mich manchmal vor Ärger und Sorge, nicht alle Lebensbereiche mit meiner veganen Moral zu füllen, doch letztlich müssen auch bei uns Nachhaltigkeitsjüngern und passionierten Tierschützern wie mir ein paar Ausnahmen von der Regel erlaubt sein. Schließlich sind wir trotz unserer hohen Ansprüche und unserer selbstgewählten Fleischlosigkeit immer noch Menschen aus Fleisch und Blut und nicht ganz unfehlbar.
Deshalb, liebe vegane Mitstreiter und Mitstreiterinnen, lebt euer Leben im Einklang eures Credos, habt Spaß an eurem persönlichen achtsamen Konsum, doch driftet nicht ab in den verbissenen Verzicht oder gar in kleinkarierte Pedanterie, denn letzten Endes muss jeder seinen eigenen Frieden in Kopf, Herz – und Bauch – schließen.
Übrigens sitze ich gerade vor einem leckeren Teller Spaghetti mit Tofu-Hack. Den Gewissensbissen-Parmesan als Ausnahme-Topping spüle ich einfach mit einem voll Fruchtfleisch strotzenden Blutorangensaft runter.